Was heißt eigentlich OM?
Aus den Göttern, die sich erhitzten, wurden die drei Veden geboren: der Ṛgveda wurde aus dem Feuer geboren, der Yajurveda aus dem Wind und der Sāmaveda aus der Sonne. Prajāpati erhitzte diese Veden, und aus diesen Veden, die sich erhitzten, wurden die drei reinen Sphären geboren: die Erde wurde aus dem Ṛgveda geboren, die Atmosphäre aus dem Yajurveda und der Himmel aus dem Sāmaveda. Er erhitzte diese Sphären, und aus diesen Sphären, die sich erhitzten, wurden die drei Laute — a, u und m — geboren. Er brachte diese als eines zusammen; so entstand Om. Und deshalb murmelt der Ṛgvedische Priester 'om-om'. Om ist die himmlische Welt. Jenes dort oben, das brennt, ist om.
Aitareya Brāhmaṇa (ca. 800 v. Chr)
Wahrscheinlich gibt es kaum Yoga-Übende, die sich diese Frage noch nicht gestellt haben: Was heißt eigentlich OM? Das Chanten/Rezitieren der voll und wohlig klingenden Silbe ist - anders als die Ausführung so mancher Yoga-Asanas - für die meisten Menschen rein physisch keinerlei Problem. Das macht die Technik u. a. anfällig für satirische Imitation: Wer zum Beispiel bei einem Ratespiel einen Yogi darstellen möchte, setzt sich im Schneidersitz hin, legt Daumen und Zeigefinger zusammen und ruft "Ommmm". Was die Bedeutung des Mantras angeht, liefert Google auf Nachfrage natürlich ein paar Antworten. Diese meist sehr metaphysisch anmutenden Erklärungen klingen oftmals aber irgendwie zugleich bedeutungsschwanger und nichtssagend. Zumindest in den Ohren vieler heutiger Praktizierender, die Yoga in erster Linie als eine Methode zur Erlangung von Gesundheit und Entspannung begreifen. So symbolisiere OM etwa die Triade der drei hinduistischen Götter Brahma, Vishnu und Siva oder korrespondiere mit den Zuständen des Wachens, des Träumens und des Tiefschlafs. Kein Wunder also, wenn so manche*r hier skeptisch ist und eher irritiert reagiert oder das Ganze leicht wohlwollend belächelt. Aus meiner Unterrichtserfahrung weiß ich, dass immer wieder mal Kursteilnehmende - aus welchem Grund auch immer - auf das Falten der Hände und auf das Chanten verzichten und diesen Teil der Stunde lieber gleichmütig abwarten (ja, ich gebe es zu: hin und wieder blinzele ich während der Anrufung ;-)). Das ist nachvollziehbar und absolut legitim. Nichtsdestotrotz hoffe ich, im Folgenden eine etwas befriedigendere Antwort auf die Frage nach der Bedeutung von OM liefern zu können.
Für die oben bereits genannten Deutungen lassen sich durchaus Belege in der altindischen Literatur finden. Die Spekulationen darüber, was die mystische Silbe bedeutet, sind zahlreich und reichen bis weit in die Vergangenheit zurück. So finden sich bereits in den Brahmanas einige spannenden Ideen zum Thema. Bei diesen Texten, die vermutlich in der ersten Hälfte des 1. Jahrtausends vor Christus entstanden, handelt es sich um rituelle Anweisungen und theologische Kommentare, in denen die vedischen Opferhandlungen interpretiert werden. Die ungefähre Idee damals war, dass die Veden, die unter orthodoxen Hindus noch heute als die heiligsten Texte gelten, einen göttlichen Ursprung haben und dass aus den Worten des Veda die drei Sphären der Welt der entstanden: Die Erde als Wohnort der Menschen, der Himmel als Welt der Götter und die "Atmosphäre" als eine Art Zwischenwelt, welche die Kommunikation zwischen Menschen und Göttern durch die vedischen Opferrituale ermöglicht. OM wurde dabei mit der himmlischen Welt der Götter und der Sonne assoziiert (siehe Zitat oben). In den Upanishaden, einer weiteren Textgattung, die sich im Zuge der Entstehung asketischer Strömungen und meditativer Praktiken in Indien ab ca. 5. v. Chr. herausgebildet hat, wurde dieses Weltbild internalisiert: Das Göttliche/Universale (brahman) wird hier vom äußerlichen Himmel gewissermaßen ins Innerste des menschlichen Geistes (atman) verfrachtet. Die Rezitation von OM als Ur-Klang und Essenz allen Seins erscheint dabei eines der wichtigsten Mittel, um diese Identifikation von Makrokosmos und Mikrokosmos zu erkennen und so spirituelle Befreiung zu erlangen. In Anlehnung an und Auseinandersetzung mit diesem Konzept wird die Silbe in Patanjalis Yoga-Sutras (ca. 3.-4. Jh. nach Chr.) als verbale Form oder klanglicher Ausdruck eines göttlichen, allumfassenden und unvergänglichen Bewusstseins verstanden. Die Verehrung und Hingabe an dieses göttliche Sein durch die Rezitation von OM und das Nachsinnen über die Bedeutung des Klangs erscheint in dem Text als ein unverzichtbarer Bestandteil der yogischen Praxis, um den Geist während der Meditation von Ablenkungen zu befreien und einen Blick auf das “innere Bewusstsein” zu erhaschen.
Also alles ganz schön starker Tobak. Und auch wenn diese Deutungen durchaus interessant und inspirierend sein können, wird jedoch nicht wirklich klar, welche Bedeutung und welchen Sinn das Chanten von OM für uns moderne Yoga-Übende ganz konkret in unserer Praxis haben könnte. Oder ob es überhaupt von Bedeutung ist! Ich denke, dass man einer Antwort auf diese Frage näherkommen kann, wenn wir uns zunächst etwas von den lexikalisch-semantischen Interpretationen distanzieren und uns stattdessen dem Klang selbst zuwenden. Dieser setzt sich im Wesentlichen aus aus drei Lauten zusammen: A, U und M. Sven Hinz*, einer meiner langjährigen Schüler, der professionell als Komponist und Phonetiker tätig ist, beschreibt das OM als eine Silbe, deren Besonderheit unter anderem, darin besteht, dass sie besonders langsam artikuliert wird und einen ganzen Atemzug ausfüllt:
Das AUM ist «tönender Atem» – wie jeder andere Sprachlaut auch. Anfangs ist der Mund weit geöffnet, und der Vokal «A» entsteht. Er hat ziemlich helle und strahlende Obertöne, die zu hören Freude macht. Darum sagen wir ja auch spontan «Aah!», wenn wir uns freuen, und reißen dabei die Augen auf. Dadurch fließt mehr Licht in unseren Körper, während gleichzeitig das Licht als «Ah!»-Klang aus unserem Körper strömt. A wie Anfang: Wir stehen am Beginn des Daseins, haben soeben das «Licht der Welt» erblickt. Nun beginnt der Mund sich langsam zu schließen. Sein unausweichlicher, absehbarer, doch zu diesem Zeitpunkt noch ferner Endzustand ist das totale Geschlossensein. Der Kontakt der äußeren Lippen (die inneren sind die Stimmlippen), welche sich berühren, wird den Luftstrom zwingen, durch die Nase zu entweichen. So entsteht der Nasenlaut «M». Es ist der Laut der Nachdenklichkeit, der Erkenntnis und der Akzeptanz: Ja, so ist es. Mh-mh. A-men. Das M bedeutet das Ende des Strömens von Atem, Klang und Leben. Auf dem Weg dorthin gibt es einiges zu erleben: eine unfassbare Vielfalt ständig sich wandelnder Vokale erscheint, die den absteigenden Pfad vom sonnenumfluteten Gipfel des «Ah!» hinunter in das schattige Tal des «Mm» begleitet. Da ist das etwas dunklere «å», welches übergeht in das offene «O», wie es im Wort «offen» vorkommt, darauf folgt das uns vertraute normale «o», dem sich ein schwacher «U»-Laut anschließt, der wie das «u» in «unter» klingt und danach immer «u»-
artiger wird… Jede dieser Erscheinungen können wir auf uns zukommen, wahrnehmen und durch uns hindurchgehen lassen, ohne eine bestimmte davon festhalten zu wollen.
Sämtliche Laute sind eigentlich Vibrationen, die durch die Stimmritze erzeugt und durch die Luft übertragen werden. Wenn diese luftigen Vibrationen in das Innenohr gelangen, bringen sie das Trommelfell zum Schwingen und es kommt zu physischen Resonanzen in den anliegenden Strukturen aus winzigen Knochen, Flüssigkeiten und feinen Fasern. Diese Resonanzen werden in Form von elektrischen Impulsen durch das Nervensystem an das Gehirn weitergeleitet, wo dann eigentlich erst der subjektiv wahrgenomme Klang entsteht! Das Chanten von OM erzeugt dabei Klangmuster und Vibrationen in einer eine Frequenz, die den Geist in einen zugleich wachen und entspannten Zustand versetzen, welcher die ideale Grundlage für meditative Praktiken darstellt. Tatsächlich gibt es eine Reihe von wissenschaftlichen Studien, in denen untersucht wurde, welche Wirkung das Rezitieren von OM auf das limbische System, auf Gehirnwellenmuster, das autonome Nervensystem sowie auf die Herzfrequenz und den Atemrhythmus haben*.
Der Blick auf diese phsycho-physiologischen Effekte des Chantens bringt uns auf faszinierende Art und Weise zurück zu den vedischen Priestern aus der indischen Frühzeit. Noch bevor die theoretischen Spekulationen über die "Bedeutung" von Mantren wie OM in den Brahmanas und Upanishaden entstanden, gingen diese davon aus, dass ein Mantra eine Art Zauberspruch ist, der seine Wirkung bei korrekter Aussprache unabhängig von seiner lexiklaischen Bedeutung entfaltet. Wie der Indologe und Rockmusiker (!) Finnin Gerety gezeigt hat, wurden in den vedischen Opfer-Ritualen verschiedene Varianten von OM als linguistisches Werkzeug benutzt, um eine Art Klangteppich zu erzeugen, der wahrscheinlich nicht in erster Linie Informationen transportieren sollte, sondern eine akustische Grundlage für die Effektivität der durchgeführten rituellen Praktiken darstellte. Er schreibt: “Ein heiliger Klang bildet eine eigene Form der Kommunikation, die es Praktizierenden ermöglicht, einen klanglichen Diskurs parallel zur sprachlichen Ebene zu führen.”*** Insofern lässt sich der Klang des Lautes OM vielleicht am besten mit dem Geruch von Weihrauch in der Kirche oder dem Betrachten eines abstrakten Kunstwerks vergleichen. Alle diese Sinnesobjekte können einen Einfluss auf unser Innerstes ausüben, der von den Bedeutungen, die wir diesen Objekten zuschreiben, gefärbt wird, aber nicht vollständig durch diese erklärt werden kann.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das
Chanten von OM zu Beginn der Yogapraxis es uns ermöglicht, durch die Effekte des vibrierenden Klangs auf Körper und Geist sowie durch die Besinnung auf die eigentliche individuelle Motivation zum Üben, aus dem
beschränkten Alltagsmodus mit all seinen Notwendigkeiten, Belanglosigkeiten und Erwartungen hinauszutreten. Beim Üben in der Gruppe kommt das verbindende Element des Chantens hinzu: Der gesamte Raum und alle Körper darin werden erfüllt vom Klang und der Vibration. Diese geteilte Stimmung kann dazu beitragen, Mitgefühl, Offenheit, Dankbarkeit und Demut zu entwickeln und uns innerlich in
einen besonderen und erhabenen Zustand zu versetzen. Dieser Zustand macht uns
empfänglicher für tiefgreifendere Erfahrungen während des weiteren Übens. Und das
tiefe Eintauchen in die Übungspraxis kann einen Raum in unserem Inneren eröffnen, in dem wir uns - losgelöst von Worten, Konzepten und Interpretationen - auf intuitive Weise mit etwas
Größerem verbundem fühlen; mit etwas, dass über die eigene individuelle alltägliche Existenz
hinausgeht und das sich allein mit Worten nicht erklären lässt.
* Mehr Infos zu Sven und seiner Arbeit findest du unter: https://klangsignale.com/
** Einen Überblick über einige wissenschaftliche Studien zum Thema findest du unter: https://meditationmusiclibrary.com/blogs/wednesday-wisdom-blog/8-scientific-studies-on-the-power-of-...
*** Finnian Gerety (2015): This Whole World is OM: Sonality and the "Sacred Syllable". Siehe unter: https://www.academia.edu/30179285/This_Whole_World_is_OM_Sonality_and_the_Sacred_Syllable_